RACHEL LUMSDEN
2 Juli 2017 – 3 September 2017
RACHEL LUMSDEN
2.7.-3.9.2017
Rachel Lumsden (*1968, GB; lebt und arbeitet in St. Gallen) schafft Gemälde, die mindestens so gross wie die Künstlerin selbst sind und ihr erlauben, eine körperliche Beziehung zu ihren Werken herzustellen. Eine Erfahrung, die sich auch auf den späteren Betrachter überträgt. Eindrücklich vermitteln die Bilder den Prozess ihrer Entstehung und lassen auf eine Künstlerin schliessen, die ein enormes Gespür für die Eigenschaften und Möglichkeiten ihres Materials besitzt. Lumsdens Arbeiten können nicht als narrativ bezeichnet werden, weil sie zu offen und für eine eindeutige Lesart zu mehrdeutig bleiben; es lässt sich zumindest sagen, dass es sich um atmosphärisch aufgeladene Welten voller Energie handelt. Ihre Kompositionen sind inspiriert durch eine Vielzahl von visuellen Quellen wie Zeitungsfotos, kunsthistorischen Referenzen sowie Traumbildern, Schaltplänen und Werbemitteln. Rachel Lumsdens Themen verbinden unbeachtete Paraphernalien des Alltäglichen mit fantastischen Elementen, autobiografische Fragmente mit dem kollektiven Unbewussten. Diese stimmen oft mit dem Zeitgeist in der Malerei, aber auch mit aktuellen sozialen und politischen Aspekten überein. Die Einzelausstellung zeigt Gemälde der letzten zehn Jahre und ist die bisher umfassendste Präsentation ihres Schaffens. Sie ist das Ergebnis einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit der Fondation Fernet-Branca in Saint-Louis, Frankreich und dem Kunst(Zeug)Haus in Rapperswil-Jona, Schweiz.
In den letzten zehn Jahren hat Lumsdens Malerei hinsichtlich Thematik und Umgang mit Farbe viele Wandlungen durchlaufen. Bis 2010 hat die Künstlerin das Arbeiten in Serien bevorzugt, eine Vorgehensweise, welche die schrittweise Entfaltung verschiedener Aspekte eines Themas ermöglichte. Die Werkgruppe Bird Wars (2008 – 09) vereint die frühesten Arbeiten der Ausstellung und verweist auf Rachel Lumsdens Fähigkeit, Atmosphäre zu schaffen, ohne auf Erzählerisches zurückzugreifen. Vögel und andere Tiere in Menschengestalt vertreten hier den Menschen und seine Emotionen. Die Bilder vermitteln ein Gefühl von Unbehagen, entziehen sich aber einer eindeutigen Lesart. Vielmehr lösen sie disparate Rückbesinnungen aus, etwa auf unheimliche Gestalten aus Kinderbüchern, Illustrationen aus Büchern des 17. Jahrhunderts, auf die gesellschaftskritischen Satiren und Karikaturen von Hogarth und Goya, oder auf Computerspiele.
Obschon Lumsdens Arbeiten unverkennbar figurativ sind, bleibt die Rolle der menschlichen Figur mehrdeutig, nicht zuletzt, weil die Künstlerin nur selten Gesichter darstellt und somit Narration oder Psychologie vermeidet. Ihre Figuren entspringen dem trockenen Humor, der für Lumsdens Arbeiten charakteristisch ist und der die beklemmende Thematik aufhellt – oder manchmal auch eine dezidierte Ironie durchblitzen lässt, von den hybriden Kreaturen in Bird Wars bis zu den Figuren in Crow Tribe (2016).
Lumsdens Arbeiten sind immer auch in einem kunsthistorischen Kontext zu betrachten, sie kennt keinerlei Bedenken bei der Aneignung bestimmter Themen oder im Umgang mit Farbe. Mit ihren Bezügen auf historische Bilderwelten wie die barocken Kostüme in Bird Wars sowie ihren Referenzen zu aktuellen Themen – wie beispielsweise in Convergence of the Twain (2012) oder Alternative Fact (2017) – werden Vergangenheit und Gegenwart komprimiert und historische, politische und soziale Aspekte zusammengeführt.
Der Übergriff der Vergangenheit auf die Gegenwart kommt allerdings vor allem in der Atmosphäre von Lumsdens Interieurs zum Ausdruck. Die antiquierten Möbel, die in vielen ihrer Innenräume auftauchen – insbesondere Beistelltischchen, Lampe und Zierfigürchen – verorten die Bilder in der Muffigkeit altmodischer Wohnzimmer, die in Grossbritannien immer noch in einer gewissen Gesellschaftsschicht zu finden sind und in der britischen Malerei eine grosse Tradition haben. Lumsdens Darstellung von Räumen kann sehr expressiv sein, wenn Objekte wie Lampen und Möbel als Stellvertreter der menschlichen Gestalt zum Einsatz kommen und die Vieldeutigkeit des Raumes die Atmosphäre auflädt. In Here we go Again (2014) ist zum Beispiel nicht auf den ersten Blick ersichtlich, dass man einen Kaminsims und dessen Spiegelbild sieht.
Die Interieurs zeigen sich in Nahsicht, bieten so einen fragmentierten Blick auf die Dinge an und nehmen zugleich den Betrachter in ihre Introspektion auf. Den unbehaglichen Eindruck, die Dinge seien nicht unbedingt das, was man zu sehen glaubt, erzeugt Lumsden in vielen ihrer Arbeiten immer wieder durch Hinzufügen von Türen, hinter denen eine andere Welt lauern könnte. Auch verwendet sie Fenster als Mittel der dramaturgischen Inszenierung, um ein Bild im Bild zu schaffen.
Die doppeldeutige Lesart erstreckt sich auch auf den Herstellungsprozess der Bilder. Lumsdens Umgang mit Farbe – sowohl was die farbliche Gestaltung als auch das Material an sich betrifft – ist radikal. Farbe ist zugleich grell und schmutzig, satt und diskordant. Bis auf Werke wie End of a Short Day (2015) mit seinen leuchtend orangen Farbflächen, hat Lumsden einer einzelnen Farbe nur selten eine solch umfassende Entfaltung zugestanden. Der schwarzen Farbe aber kommt eine bemerkenswert grosse Bedeutung zu: Sie schimmert durch die Schichten anderer Farben oder verschmutzt diese direkt, wird jedoch auch als Kontrast zum Licht spürbar, das Lumsdens Arbeiten erhellt und scheinbar von innen ausleuchtet. In den letzten Jahren wurde Rachel Lumsden kühner, indem sie Farbe über die Oberfläche zieht oder ausgiesst – ein Vorgang, der sich nur teilweise kontrollieren lässt. Deswegen wird in Bildern wie Return of the Huntress (2016) und Titanium (2017) der Inhalt der Arbeit im Zusammenwirken von Farbe und ihrer Materialität verkapselt, wobei letztere häufig eine eigenständige Ebene der Abstraktion besetzt.
Kuratorin der Ausstellung: Felicity Lunn, Direktorin Kunsthaus Pasquart, Biel
Eine reichbebilderte Publikation mit Texten von Felicity Lunn, Charlotte Mullins und André Rogger erscheint im Verlag für moderne Kunst (ENG / DT / FR).
Öffentliche Führungen
Do 6.7.2017, 18:00 (fr) Emilie Lopes Garcia, médiatrice culturelle
Do 31.8.2017, 18:00 (dt) Felicity Lunn, Direktorin Kunsthaus Pasquart
Künstlergespräch
Do 24.8.2017, 18:00 (dt / eng) Rachel Lumsden im Gespräch mit Felicity Lunn