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ASTA GRÖTING

Where do you see yourself in 20 years?

22.9.-24.11.2019

Asta Grötings (*1961, D) Ausstellung vereint ihre frühen Arbeiten, die das Innen nach aussen kehren, und neue Skulpturen und Videos, in denen die Künstlerin die physische und psychische Dekonstruktion des menschlichen Körpers befragt. Ob mit dem Abbilden des Raums, welcher durch die Körper von Liebespaaren während des Geschlechtsverkehrs geschaffen wird, oder dem Sichtbarmachen der Einschusslöcher, die sich im Zweiten Weltkrieg in die Gebäudefassaden Berlins eingeschrieben haben, offenbart Gröting das Innere der Dinge. Sie unterwandert den Duktus monumentaler Skulptur und lenkt unseren Blick auf das nicht Vorhandene sowie auf körperliche und emotionale Lücken und Brüche zwischen Menschen und Dingen. Familienmitglieder, Freunde oder historische Persönlichkeiten dienen Gröting als Modelle, anhand derer sie mit ihrer medienübergreifenden Arbeit abstrakte Qualitäten wie Gedanken, Intimität, Würde, Konflikt und Subjektivität untersucht. Mit ihrer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit Lücken, Innenräumen und Innereien hinterfragt sie den Körper als soziales Konstrukt konzeptionell und emotional: Indem sie ihm etwas wegnimmt und dieser Abwesenheit erlaubt, Inhalt zu sein. Auch die drei neuen Videos thematisieren das Verhältnis von Gegenstand und Körper: Die Künstlerin setzt alltägliche Objekte und banale Handlungen in Szene und fokussiert damit deren eindringliche Präsenz und berührende Intensität. Grossformatig projiziert, erinnern sie an Tableaux vivants oder an Stillleben Alter Meister.

In ihrer vielfältigen künstlerischen Praxis, die sie seit Mitte der 1980er Jahre verfolgt, übersetzt Asta Gröting unsichtbare oder übersehene Elemente des menschlichen Zustandes in Skulpturen. Ihre Arbeit beschäftigt sich sowohl auf emotionaler als auch auf konzeptioneller Ebene mit der Rolle des Körpers in persönlichen, kollektiven und politischen Kontexten. Grötings Erforschung der intimen Tiefen des Körpers begann in den 90er Jahren, als sie menschliche und tierische Verdauungssysteme in Materialien wie Glas und Silikon goss. Verdauungswege (1990) enthüllt nicht nur einen Teil des unbekannten Inneren, sondern verweist auch auf die sinnlicheren Aspekte des intestinalen Nervensystems – auf dem Boden vor uns ausgebreitet liegt dieses «zweite Gehirn» des Körpers, von dem Philosophen der Antike behaupteten, es sei die Heimat der Seele. Gröting führt ihre Auseinandersetzung mit verborgenen Räumen des Körpers und seiner emotionalen Aufgeladenheit in ihrer Skulpturenserie Space Between Lovers fort, in der sie Materialien wie Polyurethan und Silikon verwendet, um einen Moment der Intimität darzustellen. Um das Werk zu realisieren, hat Gröting zwei Schauspieler während des Geschlechtsverkehrs abgeformt. Auf den ersten Blick scheint das glatte weisse Silikon von Space Between Lovers, Unfolded (2008) eher einer zarten Muschel als zwei menschlichen Formen zu ähneln. Bei genauerem Hinsehen sind ein Mann und eine Frau untrennbar miteinander verbunden. Die Konturen ihrer Körper erscheinen als negative Leere, aber die Skulptur offenbart auch die unausgesprochenen, unaussprechlichen und verborgenen Fragen von Beziehungen. Andere Werke sind ein Mahnmal für kollektivere Formen von Abwesenheit, Verlust und Zeitablauf, insbesondere Bodenplatte (2013), einer Reihe von Skulpturen, die von Rodins Bürger von Calais inspiriert sind. Gröting formte in Rodins Atelier in Meudon die Basis der Skulptur ab und modellierte die Stellen, wo die Gewänder und Füsse der sechs Stadtführer – die im Hundertjährigen Krieg ihr Leben für die Stadt Calais opfern wollten – den Boden der Skulptur berühren.

Asta Gröting offenbart nicht nur die Dinge, die normalerweise nicht zu sehen sind, sondern auch jene, die wir nicht sehen wollen, sei es das Förderband aus einer Kohlengrube, rekontextualisiert in Reifen (1987) als skulpturales Objekt, oder die Reclining Figure 2 (2018), ein Abguss eines Schlafsacks, dessen verdrehte und kokonartige Erscheinung die Zerbrechlichkeit der menschlichen Form vermittelt. Ihre Entscheidung, mit einem bestimmten Material zu arbeiten, wird immer von der Geschichte hinter jeder Skulptur beeinflusst. Affentanz 6 (1987-2015) zum Beispiel ist inspiriert von Lederjacken aus den 1980er Jahren. Gröting beschloss, den narrativen Kreis zu schliessen, indem sie die aufrechte, menschliche Form der Jacke wieder in Tiere verwandelte, die auf allen Vieren stehen. Auch Feuerstelle (2011) kehrt das Innere um: Drei Kanthölzer aus Glas leuchten rot, wo sie aufeinandertreffen und implizieren die für die Glasherstellung notwendige Feuerwärme.

Für ihre neuste Serie Berliner Fassaden (2016-2018) formte Gröting die Fassaden der durch den Zweiten Weltkrieg beschädigten öffentlichen Gebäude aus Silikon ab. Wenn das Silikon aus dem Gebäude entfernt wird, enthüllt es nicht nur Abdrücke der architektonischen Struktur der Fassade, sondern zieht auch die Tiefe der Einschusslöcher an seine Oberfläche. Die daraus entstandenen bauchigen Wülste enthalten Sandstein-, Schmutz- und Staubpartikel, die sich im Laufe der Jahrzehnte in den Löchern angesammelt hatten. Da solche Strukturen im Rahmen der Stadterneuerung rasch saniert werden – und durch den fortwährenden Versuch der Nachkriegszeit, die urbanen Oberflächen von den Überresten des Krieges zu befreien – kann Grötings forensischer Umgang mit den beschädigten Fassaden Berlins in diesem Zusammenhang als Protest gegen das Vergessen verstanden werden. Ebenso monumental in Grösse und Atmosphäre sind die drei Videos, die für diese Ausstellung gemacht wurden. First Drink (2018) ist eine Hommage an das einfache Ritual des Getränks, das jeder von uns zu Beginn des Tages wählt. Auch diese Arbeit verdichtet Vergangenheit und Gegenwart durch die physische und intensiv menschliche Erfahrung von Objekten, Orten und Zeitverläufen.

Kuratorin der Ausstellung

Felicity Lunn

Öffentliche Führung

Do 24.10.2019, 18:00 (dt)              Felicity Lunn, Direktorin Kunsthaus Pasquart

Asta Gröting, First Drink, 2019, Video, 17 min, mit Ton; Courtesy the artist and carlier | gebauer; VG Bild-Kunst, Bonn 2019
Asta Gröting, Ausstellungsansichten Kunsthaus Pasquart 2019. Fotos: Stefan Rohner