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Miriam SturzeneggerManor Kunstpreis Kanton Bern, Ausstellungsansichten Kunsthaus Pasquart 2020; Courtesy the artist, Fotos: Stefan Rohner

Miriam Sturzenegger

Manor Kunstpreis Kanton Bern 2020

19.9.–22.11.2020

Das künstlerische Interesse der Manor Kunstpreisträgerin Miriam Sturzenegger (*1983, CH) gilt Material, Materie und gebautem Raum. In ihrer Beschäftigung mit Räumen und Architekturen fokussiert sie sich auf die Substanz von Werkstoffen, Beschaffenheit von Belägen oder material-inhärente Energien, richtet ihren Blick auf Technologien der Verarbeitung oder den alltäglichen Gebrauch von Material. Diese der Materie eingeschriebenen Eigenschaften bestimmen die künstlerische Formbildung mit. Über die Umwertung und Transformation skulpturaler und materieller Merkmale werden Werke konsequent in der Reduktion entwickelt und erinnern dabei oft an architektonische Elemente. Ausgehend von einer längerfristigen Auseinandersetzung mit der Ausstellungsumgebung basieren die Arbeiten auf raumbildenden Prozessen und Zusammenhängen und können etwa als organisierende Eingriffe in den Raum, als Verschiebung oder als Ablagerung gelesen werden. Die Ausstellung zeigt eine Kombination von ortspezifischen Interventionen, neu produzierten Werkgruppen und ausgewählten bestehenden Arbeiten.

Der geomorphologische Begriff «Reliefenergie» bildet im aktuellen Werkprozess Sturzeneggers ein zentrales und dynamisches Element, das im Zusammenhang mit ihrem skulpturalen Denken steht. Er dient der Künstlerin dank seiner Mehrdeutigkeit als poetisches Werkzeug um Assoziationsketten anzustossen und in der Ausstellung auf räumliche Erfahrung zu sensibilisieren. Mit der Befragung von Relief thematisiert sie nicht nur das Topografische im architektonischen Raum, sondern auch das vielschichtige Potential, das der Räumlichkeit von Oberflächen der physischen Welt innewohnt. «Reliefenergie» bildet in der Ausstellung eine konzeptuelle Klammer zwischen dem Architektonischen und Geologischen, zwischen Haptik und Prozess, Spur und Partitur. Sie greift die Spannungen zwischen der Eigendynamik und dem Gedächtnis von Material und dessen kultureller Nutzung und Wertung innerhalb einer geordneten Umwelt auf.

Ausgangspunkt der Ausstellung bildet die spezifische Situation der Raumarchitektur des Kunsthaus Pasquart. Die bauliche Umgebung wird mitgeprägt von Massstab und Ordnung, Rahmung, Rhythmus und Unterbrüchen, Haptik und Licht. Zugleich geben diese Komponenten den Räumen eine zeitliche Dimension im Sinne eines physischen Gedächtnisses. Der Altbau zeichnet sich durch eine klare Abfolge von Räumen aus. Diese ist in formalen Brüchen als Ergebnis einer baulichen Geschichte, bzw. eines Umorganisierens des ehemaligen Spitals in eine Kunstinstitution lesbar. Die Bewegung, welche durch die erschaffene Enfilade als vorgegebener Parcours gelenkt wird, und das gleich-zeitige Vorhandensein formaler Elemente aus unterschiedlichen Bauphasen beeinflussen die Zeitlichkeit und die physische Präsenz der Räume. Die durch alle Räume hindurch laufende Säulenreihe Intersecting Scores (2020), bestehend aus Pillars (2016) und Lamella Pillars (2020), evoziert einen Säulengang und betont die zusammenfassende Funktion des Durchgangs. Die Künstlerin erweitert mit dem Einsetzen der Säulenlinie die unterschiedlichen Zeit-bezüge der Räume im Sinne eines Weiterbauens der Architektur. Diese axiale Linie setzt die Künstlerin in Beziehung mit Interruptions (2020), einer Arbeit aus stapel- oder faltenartigen Bodenelementen, die Bänken oder Schwellen gleichen und die Grenzen zwischen Design und Kunst auflösen. Ihre Oberflächen zeigen den Abdruck des Atelierbodens der Künstlerin. Der entfernte Parkettstreifen der Arbeit Mise en relief (2020) markiert eine jener Stellen, an denen vor dem Umbau des Kunsthauses 1990 Wände standen. Fast unscheinbar nehmen die mit Graphit gefüllten Einschnitte in die Wand von Plis coupés, plis projetés (2020) die markanten Fassadenkanten des klassizistischen Altbaus auf und projizieren diese in die Innenräume.

Die Basis für Passagen (2011-2020) bilden weisse A4-Notizblätter, die Miriam Sturzenegger in ihrer Tasche mitführt, wenn sie unterwegs ist. Durch die Reibungen und Pressungen zwischen Gegenständen, die sie bei sich trägt, lösen sich Partikel oder Staub von ihren Oberflächen und schreiben sich selbsttätig auf das Papier ein. Es entstehen Informationsträger, welche die Bewegung der Künstlerin und die physischen Verschiebungen von Material im Innenraum der Tasche beinhalten. Diese Blätter sind auf Hartgipsplatten aufgezogen und in der 21 m langen Vitrine des Korridors im Parkett 2 ausgelegt als eine Art zu Materie verdichtete Kartografie ihrer Routen, zurückgelegter Wege oder Spaziergänge.

In der Passage zur Salle Poma präsentiert Sturzenegger Presence Information Value Agency (2020), eine Wand-installation von vier Betonreliefs. Die Begriffe des Titels dienen der Künstlerin als Wahrnehmungswerkzeuge in der Auseinandersetzung mit Material und Raum, zwischen denen ein Spannungsverhältnis besteht. Mittels einer binären Zeichencodierung, einem für Lochkarten verwendeten Code, übersetzt sie die Begriffe in ein rasterbasiertes Punkt-bild in die Betonoberflächen. Die codierten Begriffe werden schliesslich skulptural als geometrisch präzise Vertiefungen im porösen, lebendigen Material sichtbar. Im Beton selbst verweisen feine Kalksteinspuren auf den geologischen Kontext des Ausstellungsortes, das Juragebirge.

Die Salle Poma im Neubau ist als grosser White Cube durch seine Weite geprägt, in der formale Referenzen an eine Massstäblichkeit fehlen. Diese Ästhetik erzeugt eine Raumerfahrung der Desorientierung und in seiner minimalis-tischen Neutralität zeigt der Raum kein Gedächtnis, sondern strahlt zeitlichen Stillstand aus. Diesen Umstand thematisiert Miriam Sturzenegger in ihrer ortspezifischen Bodeninstallation What Remains (Black Line) (2020). Die Künstlerin greift hier auf ein natürlich gewachsenes und industriell aufbereitetes Material zurück. Poröser Steinkohle-koks schwimmt in einem flachen langgezogenen Wasserbecken. Als Restbestand hat das Material seine kulturelle und industrielle Funktion als Brennstoff verloren und verbindet sich mit dem Prozess der Wasserverdunstung in einem flüchtigen «Gussverfahren» zu einer neuen energetischen Konstellation. Der technologische Wandel zeigt sich auch im Kunsthaus. Das visuelle Verschwinden der materiegebundenen Energie wird sichtbar im Unterschied vom Altbau zum Neubau. Während im Ersteren weisse Radiatoren vorhanden sind, gibt es im Letzteren keine sichtbaren Heizkörper mehr, sondern eine klimatische Infrastruktur, die über ein zentrales Techniksystem gesteuert wird. Zum Kunstprodukt umgewertet entfaltet das Steinkohlenkoks hier im Rückblick auf Klimatechnik, Energie- und Industriegeschichte eine neue Bedeutung.

Jury Mitglieder

Luca Beeler, Leiter Stadtgalerie Bern

Béatrice Gysin, Künstlerin Biel

David Lemaire, Direktor Musée des beaux-arts de La Chaux-de-Fond

Pierre-André Maus, Verwalter der Maus Frères SA, Genf

Chantal Prod’Hom, Direktorin mudac, Lausanne

[Vorschläge der Kandidatinnen: Felicity Lunn, Direktorin Kunsthaus Pasquart]

Kuratorin der Ausstellung

Felicity Lunn, Direktorin Kunsthaus Pasquart

Publikation zur Ausstellung

Zur Ausstellung erscheint eine reich bebilderte Publikation mit Texten von Gabrielle Schaad, Nadia Veronese und Felicity Lunn im Verlag für moderne Kunst (ENG / DT / FR).

Öffentliche Führungen

Do 15.10.2020, 18:00 (fr)    Laura Weber, Kunsthistorikerin

Fr  16.10.2020, 12:15  (dt/fr) Kunstimbiss – Kurzführung und Mittagssnack

Do 29.10.2020, 18:00 (dt)   Felicity Lunn, Direktorin Kunsthaus Pasquart

Künstleringespräch und Buchpräsentation

Do 12.11.2020, 18:00  (dt)   Miriam Sturzenegger im Gespräch mit Felicity Lunn